Jeroen Candel, Guy Pe’er & Robert Finger*
Der intensive Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in der Landwirtschaft verursacht grosse Risiken für Mensch und Umwelt. Die EU hat sowohl in der «Farm to Fork“-Strategie als auch im Rahmen des globalen Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework ambitionierte Reduktionsziele fixiert, die in wenigen Jahren erreicht werden sollen. Diese Ziele geraten zunehmend unter politischen Druck. Mehr als 700 WissenschaftlerInnen forderten in einem offenen Brief die unverzügliche und definitive Verabschiedung einer ehrgeizigen Pestizidpolitik für die europäische Landwirtschaft. In einem in der Zeitschrift Nature Food veröffentlichten Artikel haben wir die Diskussion und Argumente zusammengefasst (Candel et al. 2023).
Der intensive Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in der Landwirtschaft trägt zu einem starken Rückgang der biologischen Vielfalt bei, mit negativen Auswirkungen auf terrestrische, aquatische und marine Ökosysteme, sowie schädlichen Folgen für die menschliche Gesundheit weltweit 1,2. Die Verringerung der Risiken des Pflanzenschutzmitteleinsatzes ist ein entscheidender Hebel, um die Biodiversitätskrise zu adressieren, und die auf dem UN-Gipfel für biologische Vielfalt (COP15) und im Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework vereinbarten Ziele zu erreichen. Die EU hat eine führende Rolle bei den Bemühungen zur Reduktion von Risiken durch den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln übernommen, z.B. indem sie in ihrer „Farm to Fork“-Strategie3 das Ziel einer 50-prozentigen Verringerung des Einsatzes und der Risiken bis 2030 beschlossen hat. Im Jahr 2022 schlug die Europäische Kommission eine ‘Sustainable Use of Pesticides Regulation’ vor, um dieses Ziel in der Gesetzgebung zu verankern4 und die Mitgliedstaaten zu verpflichten, in den integrierten Pflanzenschutz zu investieren und den Pflanzenschutzmitteleinsatz in bestimmten Gebieten stark zu regulieren.
Im Gegensatz zu diesen Bemühungen haben zahlreiche Regierungen der EU-Mitgliedstaaten und Mitglieder des Europäischen Parlaments in letzter Zeit gefordert, diese neue Pestizidverordnung zu verzögern und/oder abzuschwächen. Diese Forderungen stützen sich auf mögliche Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit und die Resilienz der Ernährungssysteme, insbesondere angesichts der Folgen des Ukraine-Krieges5. Unter Berufung auf den durch den Krieg verursachten Druck auf die globalen Märkte haben die Politiker erfolgreich eine weitere Folgenabschätzung (zusätzlich zu der von der Europäischen Kommission bereits durchgeführten) gefordert. Dadurch verzögert sich das Gesetzgebungsverfahren deutlich. Dies könnte die Dynamik des Green Deals und der Farm to Fork Strategie beeinträchtigen und die dringend notwendigen Anstrengungen zur Bekämpfung der rapiden Verschlechterung des Zustands der Umwelt und der menschlichen Gesundheit behindern. Politische Argumente, die darauf abzielen, ehrgeizigere Pestizidmassnahmen zu vermeiden, lassen wissenschaftliche Evidenz ausser Acht, dass der Klimawandel, die Umweltzerstörung und der Verlust der biologischen Vielfalt die grössten Bedrohungen für das längerfristige landwirtschaftliche Produktionspotenzial in der EU darstellen6.
Mehr als 700 Wissenschaftler forderten in einem offenen Brief https://zenodo.org/record/7446449#.ZCrvKPbP0uU die zeitnahe Verabschiedung einer ehrgeizigen Pestizidpolitik für die europäische Landwirtschaft. Die unverzügliche Umsetzung der in der Farm to Fork Strategie und Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework festgelegten Ziele ist nach wie vor von grösster Bedeutung, z.B. um den Rückgang der biologischen Vielfalt aufzuhalten und umzukehren. Das derzeitige Fehlen verbindlicher Zielvorgaben ist der Grund, dass die Investitionen in den integrierten Pflanzenschutz seit der Verabschiedung der EU-Pestizidrichtlinie7 im Jahr 2009 hinter den darin gesteckten Zielen zurückgeblieben sind. Es braucht dabei eine Fixierung und Durchsetzung verbindlicher Ziele, in Kombination mit einem Mix verschiedener politischer Massnahmen und Instrumente. Dies kann von der Regulierung, wirtschaftliche Anreize (wie die Besteuerung von Pflanzenschutzmitteln) bis hin zur Bereitstellung besserer Informationen und Aufklärung8,9 sowie der Umverteilung öffentlicher Mittel, etwa im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU, reichen, um Innovationen und die Nutzung weniger toxischer Alternativen erfolgreich beschleunigen. Die Verringerung der Umwelt- und Gesundheitsrisiken durch den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in der Landwirtschaft birgt zudem das Potenzial, neue ökonomische Möglichkeiten zu schaffen und die Qualität derzeit stark geschädigter Ökosysteme und Landschaften zu verbessern10.
Die Landwirte brauchen jedoch effektive und effiziente Alternativen, um den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zu reduzieren. Innovationen in verschiedenen Bereichen wie Anbausystemen, agrarökologische Praktiken, Alternativen zu toxischen Pflanzenschutzmitteln, neue Technologien, neue Partnerschaften und politische Anreize sind dazu erforderlich9. Ziel sollte es sein, die Effizienz des Pflanzenschutzmitteleinsatzes zu steigern, aber auch den Einsatz von nicht toxischen Strategien zu erhöhen und schliesslich die Anbausysteme so umzugestalten, dass das derzeitige Niveau des Pflanzenschutzmitteleinsatzes überflüssig wird11. So können z. B. die Züchtung (z. B. neuer schädlingsresistenter Sorten) oder die Verwendung weniger anfälliger Anbausysteme (z. B. auf der Grundlage der Prinzipien der Agrarökologie) zu solchen Entwicklungen beitragen12. Folgenabschätzungen für die Pestizidpolitik müssen auch einen solchen politikbedingten Wandel des gesamten Ernährungssystems berücksichtigen, die nichtlinear und disruptiv ist und daher in den derzeitigen Bewertungsmodellen nur schwer berücksichtigt werden kann13.
Europa kann und sollte (insbesondere angesichts seines grossen Anteils am historischen und aktuellen Rückgang der biologischen Vielfalt) ein Vorbild für den Übergang zu einer Zukunft mit geringem Pestizidrisiko werden und damit anderen Ländern den Weg zur Erreichung der im Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework festgelegten Ziele ebnen. Die Staats- und Regierungschefs der EU haben zwar in Montréal politische Führungsstärke bewiesen, doch sollten sie diesen Verpflichtungen nun zu Hause Taten folgen lassen, damit sie nicht nur auf dem Papier bestehen. Dieser Prozess muss dabei verstärkt auf wissenschaftlicher Evidenz abgestützt werden.
Paper: Candel, J., Pe’er, G., Finger, R. (2023). Science calls for ambitious European pesticide policies. Nature Food. In Press https://www.nature.com/articles/s43016-023-00727-8
*Autoren: Jeroen Candel (Public Administration and Policy Group, Wageningen University), Guy Pe’er (Department of Ecosystem Services, UFZ – Helmholtz Centre for Environmental Research, Leipzig & German Centre for Integrative Biodiversity Research (iDiv) Halle-Jena-Leipzig) & Robert Finger (Agricultural Economics and Policy Group, ETH Zürich). Kontakt: rofinger@ethz.ch
Weitere Referenzen
1Tang, F. H., Lenzen, M., McBratney, A., & Maggi, F. (2021). Risk of pesticide pollution at the global scale. Nature Geoscience, 14(4), 206-210.
2 Tsiafouli, M. A., Thébault, E., Sgardelis, S. P., De Ruiter, P. C., Van Der Putten, W. H., Birkhofer, K., … & Hedlund, K. (2015). Intensive agriculture reduces soil biodiversity across Europe. Global change biology, 21(2), 973-985.
3 Schebesta, H., & Candel, J. J. (2020). Game-changing potential of the EU’s Farm to Fork Strategy. Nature Food, 1(10), 586-588.
4EU Commission (2022). Sustainable use of pesticides https://food.ec.europa.eu/plants/pesticides/sustainable-use-pesticides_en
5Foote, N. (2022). Member states slam Commission’s plans to slash pesticide use. Euractiv https://www.euractiv.com/section/agriculture-food/news/member-states-slam-commissions-plans-to-slash-pesticide-use/
6EU Commission (2023). Drivers of food security. https://commission.europa.eu/system/files/2023-01/SWD_2023_4_1_EN_document_travail_service_part1_v2.pdf
7Helepciuc, F. E., & Todor, A. (2021). Evaluating the Effectiveness of the EU’s Approach to the Sustainable Use of Pesticides. Plos one, 16(9), e0256719.
8Nielsen, H.O, Konrad, M.T.H., Pedersen, A.B., Gyldenkaerne, S. (2023). Ex-post evaluation of the Danish pesticide tax: A novel and effective tax design. Land Use Policy, online first. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0264837723000157
9Möhring, N., Ingold, K., Kudsk, P., Martin-Laurent, F., Niggli, U., Siegrist, M., Studer, B., Walter, A., Finger, R. (2020). Pathways for advancing pesticide policies. Nature Food 1, 535–540.
10IPBES. (2018). The Assessment Report on Land Degradation and Restoration. Bonn: Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services.
11Finger, R. (2021). No pesticide free Switzerland. Nature Plants 7, 1324–1325
12Deguine, J. P., Aubertot, J. N., Bellon, S., Côte, F. X., Lauri, P. E. P. E., Lescourret, F., … & Lamichhane, J. R. (2023). Agroecological crop protection for sustainable agriculture. Advances in Agronomy, 178.
13Candel, J. (2022). EU Food-System Transition Requires Innovative Policy Analysis Methods. Nature Food 3(5): 296–98.