Hürden für eine evidenzbasierte Pflanzenschutzmittelpolitik und -praxis

Benjamin Hofmann, Karin Ingold, Christian Stamm, Robert Finger und Sabine Hoffmann*

Die Nutzung wissenschaftlicher Evidenz in Entscheidungsprozessen wird häufig als Schlüssel zu mehr Nachhaltigkeit gesehen – auch in der Landwirtschaft. Am Beispiel Pflanzenschutz zeigen wir, dass es dabei jedoch eine Reihe von möglichen Hürden zu überwinden gilt.

Die Risikoreduktion beim Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in der Landwirtschaft ist ein komplexes Nachhaltigkeitsproblem an der Schnittstelle von Ernährung, menschlicher Gesundheit und Umwelt. Es betrifft mehrere der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, die bis 2030 global und von jedem Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen erreicht werden sollen (Abbildung 1). In der Schweiz ist das Ziel einer produzierenden, nachhaltigen und auf den Markt ausgerichteten Landwirtschaft in Artikel 104 der Bundesverfassung verankert. Im Bereich des Pflanzenschutzes wurde der «Aktionsplan zur Risikoreduktion und nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln» und das «Verordnungspaket für sauberes Trinkwasser und eine nachhaltigere Landwirtschaft» verabschiedet. Letzteres setzt einen ersten Teil der parlamentarischen Initiative 19.475 «Das Risiko beim Einsatz von Pestiziden reduzieren» um. Die Ziele des Aktionsplans und des Verordnungspakets zu erreichen ist aufgrund von Zielkonflikten, divergierenden Interessen wichtiger Akteure und Unsicherheiten hinsichtlich der Auswirkungen verschiedener Handlungsoptionen für die menschliche Gesundheit, Umwelt, und Wirtschaft eine Herausforderung. Seitens der Wissenschaft wurde die Erwartung formuliert, dass eine verstärkte Forschung dabei helfen kann, solche komplexen sozial-ökologischen Herausforderungen zu bewältigen und die globalen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen (Messerli et al. 2019). Dafür ist jedoch entscheidend, ob und wie die generierte Evidenz von Akteuren in Politik und Praxis tatsächlich genutzt wird.

Abbildung 1: Zusammenhang zwischen Pflanzenschutz und UN-Nachhaltigkeitszielen

In einem wissenschaftlichen Artikel, der kürzlich in der Fachzeitschrift Ambio veröffentlicht wurde (Hofmann et al. 2022), zeigen wir mögliche Hürden für evidenzbasierte Entscheidungen im Bereich des Pflanzenschutzes auf. Konkret entwickeln wir in diesem Artikel theoretische Modelle, die helfen können, den Umgang mit Evidenz in Politik und Praxis besser zu verstehen. Diese Modelle verankern wir in einer interdisziplinären Synthese des aktuellen Forschungsstandes zur Rolle von Evidenz in der Pflanzenschutzpolitik und -praxis in Europa und Nordamerika. Hierfür fassen wir Studienergebnisse aus den Gesundheits- und Umweltwissenschaften sowie aus Agrarökonomie, Agronomie, Politikwissenschaft und Entscheidungsanalyse zusammen. Ziel unseres Artikels ist es, eine Debatte über die Nutzung von Evidenz für einen nachhaltigen Pflanzenschutz und in anderen Nachhaltigkeitsfeldern anzustossen und vertiefte Forschung hierzu anzuregen.

Wir entwickeln drei Modelle, wie Akteure mit wissenschaftlicher Evidenz umgehen. Mit Akteuren bezeichnen wir Individuen oder Organisationen, die politische Rollen einnehmen (z.B. als Nationalrätin oder Interessenverband) oder Teil der landwirtschaftlichen Wertschöpfungskette sind (z.B. als Hersteller von Pflanzenschutzmitteln, Landwirte, Grossverteiler und Konsumentin). Unsere Modelle gehen von unterschiedlichen Motivationen der Akteure aus, ohne diese jedoch zu werten:

  1. Wahrheitssuchende Akteure treffen Entscheidungen vornehmlich auf Basis der besten verfügbaren Evidenz. Mit Blick auf diese Akteure ist ein grösseres und besseres Angebot an wissenschaftlicher Evidenz eine Voraussetzung für Entscheide, die zu mehr Nachhaltigkeit führen (vgl. Haas 2004).
  2. Sinnorientierte Akteure versuchen neue wissenschaftliche Evidenz mit ihren bestehenden Überzeugungen zu vereinen (vgl. Dewulf et al. 2020). Damit diese Akteure nachhaltig handeln, müssen Angebot und Nachfrage von Evidenz zusammenpassen – zum Beispiel, indem wissenschaftliche Evidenz mit dem Erfahrungswissen der Akteure kompatibel ist und indem sie Nachhaltigkeitsprobleme nicht nur erklärt, sondern auch Lösungen aufzeigt.
  3. Nutzenmaximierende Akteure setzen Evidenz strategisch ein, um vordefinierte Interessen politisch und praktisch durchzusetzen (vgl. Weiss 1979). Die strategische Nachfrage der Akteure bestimmt, welche Evidenz aufgenommen oder womöglich überhaupt erst produziert wird, um eine nachhaltige Transformation zu unterstützen oder zu verhindern.  

Wir betrachten diese drei Akteursmodelle über fünf Stufen der Evidenznutzung (vgl. Rickinson et al. 2021): (1) Produktion wissenschaftlicher Evidenz, (2) Aufnahme von Evidenz durch verschiedene Akteure, (3) Einfluss von Evidenz auf politische und praktische Entscheidungen, (4) Nachhaltigkeitswirkung evidenzbasierter Politiken und Praktiken, und (5) Evidenz-Feedbacks auf Basis von Wirkungsevaluationen. Der sich daraus ergebende Rahmen in Abbildung 2 bildet die Grundlage für eine umfassende und differenzierte Bestandsaufnahme möglicher Hürden für evidenzbasierten Pflanzenschutz im Einklang mit den Nachhaltigkeitszielen.

Abbildung 2: Evidenznutzung in Politik und Praxis für einen nachhaltigen Einsatz von Pflanzenschutzmitteln (PSM)

In unserer Synthese des aktuellen Wissensstandes zeigen wir die grosse Vielfalt an Hürden für eine evidenzbasierte Pflanzenschutzpolitik und -praxis auf. Tabelle 1 listet typische Hürden auf, die sich aus den unterschiedlichen Motivationen der Akteure in verschiedenen Stufen der Evidenznutzung ergeben. Einige Beispiele wollen wir hervorheben:

  1. Wahrheitssuchende Akteure können zwar auf umfangreiche wissenschaftliche Evidenz zu den Umwelt- und Gesundheitsauswirkungen von Pflanzenschutzmitteln zurückgreifen, die Massnahmen zur Risikoreduktion rechtfertigt. Jedoch müssen sie auch mit noch bestehenden Unsicherheiten in der Evidenzproduktion umgehen, zum Beispiel hinsichtlich der kausalen Zusammenhänge zwischen dem Einsatz bestimmter Pflanzenschutzmittel und chronischen menschlichen Erkrankungen (Ohlander et al. 2020).
  2. Sinnorientierte Akteure integrieren jene Evidenz in ihre Entscheidungsfindung, die sich mit ihren Grundüberzeugungen und vorhandenem Wissen vereinbaren lässt. So hängt die Entscheidung von LandwirtInnen zur Reduktion des Pflanzenschutzmitteleinsatz unter anderem davon ab, ob sie Wissen über nachhaltige Landwirtschaftspraktiken besitzen und Erfolgsbeispiele von anderen LandwirtInnen kennen (Bakker et al. 2021; Dessart et al. 2019).
  3. Nutzenmaximierende Akteure nehmen mit ihren Interessen Einfluss darauf, welche Evidenz in Entscheidungen berücksichtigt wird und welche Wirkung diese entfalten. Beispielsweise nutzen LandwirtInnen, die private Beratungsdienste in Anspruch nehmen, mit grösserer Wahrscheinlichkeit synthetische Insektiziden als jene, die von öffentlichen Stellen beraten werden (Wuepper et al. 2021).

Tabelle 1: Mögliche Hürden für evidenzbasierte Politik und Praxis

Aus dieser Übersicht ergeben sich drei Massnahmenbündel, um die Nutzung wissenschaftlicher Evidenz in der Politik und Praxis zu fördern:

  1. Dort wo wahrheitssuchende Akteure durch Evidenzlücken eingeschränkt werden, kann die Generierung und Ansammlung von Evidenz verbessert werden. Gelingen kann dies durch mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit, global-lokale Wissensvernetzung, schnellere Synthesen des aktuellen Wissenstandes und mehr Mittel für Wirkungsevaluationen mit klar definierten Zielen als Quelle für Evidenz-Feedbacks (vgl. Topping et al. 2020).   
  2. Für sinnorientierte Akteure kann Evidenz passgenauer gemacht werden, indem Wissen vermehrt transdisziplinär zwischen miteinander vernetzten Akteuren aus Wissenschaft, Politik und Praxis koproduziert und dabei auch Erfahrungswissen berücksichtigt wird (vgl. Norström et al. 2020). Weitere Bausteine sind die Stärkung von Organisationen, die Wissen zwischen verschiedenen Akteuren vermitteln, und die gezielte Förderung lösungsorientierter Forschung.
  3. Im Falle nutzenmaximierender Akteure können Transparenzanforderungen die strategische oder gar missbräuchliche Nutzung von Evidenz begrenzen (vgl. Rohr 2021). Die Veröffentlichung aller Daten, die mit öffentlichen Mitteln erhoben worden, kann private Datenmonopole verhindern. Eine Evidenzdokumentation für wichtige politische Entscheide kann darüber hinaus die Nutzung von Evidenz nachvollziehbarer machen.

Da in der Realität alle drei Akteurstypen zusammenspielen, braucht es einen Mix aus diesen Massnahmenbündeln zur Verbesserung der Evidenznutzung. Hervorzuheben sind die Unterstützung von Synthesen des aktuellen Wissensstandes, die gezielte Vermittlung dieses synthetisierten Wissens an verschiedene Akteure und starke Transparenzmechanismen hinsichtlich der Evidenznutzung in Entscheidungsprozessen. Die Konkretisierung dieser Massnahmen kann erleichtert werden durch mehr und systematische inter- und transdisziplinäre Forschung zum Umgang verschiedener Akteure mit Evidenz. Unser Artikel soll den Impuls für solche Forschung im Kontext nachhaltigen Pflanzenschutzes geben.

Referenzen

Bakker, L., J. Sok, W. van der Werf, and F. J. J. A. Bianchi. 2021. Kicking the Habit: What Makes and Breaks Farmers’ Intentions to Reduce Pesticide Use? Ecological Economics 180: 106868. doi:10.1016/j.ecolecon.2020.106868.

Dessart, F. J., J. Barreiro-Hurlé, and R. van Bavel. 2019. Behavioural factors affecting the adoption of sustainable farming practices: a policy-oriented review. European Review of Agricultural Economics 46: 417–471. doi:10.1093/erae/jbz019.

Dewulf, A., N. Klenk, C. Wyborn, and M. C. Lemos. 2020. Usable environmental knowledge from the perspective of decision-making: the logics of consequentiality, appropriateness, and meaningfulness. Current Opinion in Environmental Sustainability 42: 1–6. doi:10.1016/j.cosust.2019.10.003.

Haas, P. 2004. When does power listen to truth? A constructivist approach to the policy process. Journal of European Public Policy 11: 569–592. doi:10.1080/1350176042000248034.

Hofmann, B., K. Ingold, C. Stamm, P. Ammann, R. I. L. Eggen, R. Finger, S. Fuhrimann, J. Lienert, et al. 2022. Barriers to evidence use for sustainability: Insights from pesticide policy and practice. Ambio. doi:10.1007/s13280-022-01790-4.

Messerli, P., E. M. Kim, W. Lutz, J.-P. Moatti, K. Richardson, M. Saidam, D. Smith, P. Eloundou-Enyegue, et al. 2019. Expansion of sustainability science needed for the SDGs. Nature Sustainability 2: 892–894. doi:10.1038/s41893-019-0394-z.

Norström, A. V., C. Cvitanovic, M. F. Löf, S. West, C. Wyborn, P. Balvanera, A. T. Bednarek, E. M. Bennett, et al. 2020. Principles for knowledge co-production in sustainability research. Nature Sustainability 3: 182–190. doi:10.1038/s41893-019-0448-2.

Ohlander, J., S. Fuhrimann, I. Basinas, J. W. Cherrie, K. S. Galea, A. C. Povey, M. van Tongeren, A.-H. Harding, et al. 2020. Systematic review of methods used to assess exposure to pesticides in occupational epidemiology studies, 1993–2017. Occupational and Environmental Medicine 77: 357–367. doi:10.1136/oemed-2019-105880.

Rickinson, M., C. Cirkony, L. Walsh, J. Gleeson, M. Salisbury, and A. Boaz. 2021. Insights from a cross-sector review on how to conceptualise the quality of use of research evidence. Humanities and Social Sciences Communications 8: 1–12. doi:10.1057/s41599-021-00821-x.

Rohr, J. R. 2021. The Atrazine Saga and its Importance to the Future of Toxicology, Science, and Environmental and Human Health. Environmental Toxicology and Chemistry 40: 1544–1558. doi:10.1002/etc.5037.

Topping, C. J., A. Aldrich, and P. Berny. 2020. Overhaul environmental risk assessment for pesticides. Science 367: 360–363. doi:10.1126/science.aay1144.

Weiss, C. H. 1979. The Many Meanings of Research Utilization. Public Administration Review 39: 426–431. doi:10.2307/3109916.

Wuepper, D., N. Roleff, and R. Finger. 2021. Does it matter who advises farmers? Pest management choices with public and private extension. Food Policy 99: 101995. doi:10.1016/j.foodpol.2020.101995.

Autoren

*Benjamin Hofmann (Eawag), Karin Ingold (Eawag/Universität Bern), Christian Stamm (Eawag), Robert Finger (ETH Zürich) und Sabine Hoffmann (Eawag/TdLab ETH Zürich)

Dank

Wir danken den weiteren Ko-Autoren der veröffentlichten Studie: Priska Ammann (Swiss TPH/Universität Basel), Rik I.L. Eggen (Eawag/ETH Zürich), Samuel Fuhrimann (Swiss TPH/Universität Basel), Judit Lienert (Eawag), Jennifer Mark (FiBL), Chloe McCallum (ETH Zürich), Nicole Probst-Hensch (Swiss TPH/Universität Basel), Ueli Reber (Eawag), Lucius Tamm (FiBL), Milena Wiget (Eawag), Mirko S. Winkler (Swiss TPH/Universität Basel), Lucca Zachmann (ETH Zürich). Dieser Beitrag ist im Rahmen des Sinergia-Projektes TRAPEGO («Evidence-based Transformation of Pesticide Governance») entstanden, das vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert wird (https://trapego.ch, Nr. CRSII5_193762). Wir sind dankbar für den Austausch mit Akteuren der Pflanzenschutzpolitik und -praxis.

Kontakt

Benjamin Hofmann (benjamin.hofmann@eawag.ch) und Karin Ingold (karin.ingold@unibe.ch)

Titelbild: Pixabay

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About Robert Finger

I am professor of Agricultural Economics and Policy at ETH Zurich. Group Website: www.aecp.ethz.ch. Private Website: https://sites.google.com/view/fingerrobert/home