von Judith Hillen und Svetlana Fedoseeva*
Der Verkauf von Lebensmitteln über das Internet war lange Zeit eher ein Nischenmarkt. In zahlreichen Ländern sind die Umsätze in den letzten Jahren aber schnell gewachsen. Insbesondere während der Corona-Pandemie konnten die Online-Händler viele Erstkunden gewinnen. Auch in der Schweiz haben die grossen Detailhändler Coop und Migros die Kapazitäten ihres Online-Vertriebs in dieser Zeit stark ausgebaut. Farmy, der drittgrösste Online-Lebensmittelhändler der Schweiz, konnte während des Lockdowns im Frühjahr 2020 Umsatzsteigerungen von 230% verzeichnen.
Global gesehen ist der grösste und relevanteste Akteur Amazon mit seinem Tochterunternehmen Amazon Fresh. Amazon Fresh bietet ein Supermarkt-Vollsortiment an, inklusive frischer Produkte sowie Tiefkühlwaren, und ist neben dem US-amerikanischen Heimatmarkt inzwischen auch in mehreren Städten in Deutschland, Grossbritannien, Indien und Japan aktiv. Zwei kürzlich veröffentlichte Studien untersuchen nun die Preissetzung von Amazon Fresh bei Lebensmitteln.1,2 Die erste Studie untersucht, inwiefern sich die Dynamik der Preissetzung bei Amazon Fresh von bisher bekannten Mustern im Lebensmittel-Einzelhandel unterscheidet. Die zweite Studie fragt, ob und wie Amazon Fresh während des Nachfrage-Booms in der Corona-Pandemie seine Preise verändert hat.
Der traditionelle Lebensmittel-Einzelhandel ist seit Jahrzenten von grosser Preisrigidität geprägt: Die Preise ändern sich nur sehr selten, und wenn dann handelt es sich häufig um temporäre Aktionspreise.
Eine Analyse von über 1.8 Millionen US-amerikanischen Amazon Fresh Preisen hat ergeben, dass Amazon Fresh mit diesem Muster bricht2: Im Schnitt gibt es über 20 Preisanpassungen pro Produkt und Jahr. Das entspricht einer Preisänderung alle 18 Tage. Für verderbliche Lebensmittel wie Milchprodukte, Obst und Gemüse sind es sogar über 26 Preisänderungen pro Produkt und Jahr, also einer Preisänderung alle zwei Wochen (Abbildung 1). Viele dieser Preisänderungen betragen nur wenige Cents, was auf den Einsatz algorithmischer Preissetzung hindeutet. Preiserhöhungen und Reduktionen halten sich dabei im Gleichgewicht, das Preisniveau der meisten Produkte bleibt trotz der häufigen Preisänderungen längerfristig eher konstant. Eine solch dynamische Preisanpassung wurde bislang nur für langlebige Konsumgüter wie Elektronik und Haushaltsprodukte dokumentiert, nicht jedoch für Lebensmittel.

Da stellt sich die Frage, ob solche neuen, flexiblen Preis-Strategien einen Einfluss auf die gesamte Lebensmittel-Branche haben könnten. Hierzu haben wir uns die Preissetzung von Whole Foods Market angeschaut. Die US-amerikanische Bio-Supermarktkette wurde 2017 von Amazon übernommen. Seitdem werden die Produkte sowohl online über die Amazon Fresh Website, als auch offline über die Whole Foods Läden vertrieben. Es zeigt sich, dass trotz der Übernahme und des Online-Vertriebs hier die Preissetzung weiterhin traditionellen Mustern folgt: Whole Foods Preise werden seltener als einmal jährlich angepasst, und die wenigen beobachteten Preisänderungen sind häufig grössere Beträge, sowie temporäre Aktionspreise. Die Frequenz und Höhe der Preisanpassungen weisen auf eine ähnliche hohe Preisrigidität wie bei anderen Lebensmittel-Einzelhändlern hin. Zumindest bislang beschränkt Amazon seine neuartige, dynamische Preissetzung also auf den reinen Onlinehandel, bleibt im Multi-Channel Vertrieb aber den altbekannten Supermarkt-Preissetzungsmechanismen treu. Mindestens so bedeutsam wie die Übernahme von Whole Foods war für Amazon Fresh der Corona-bedingte Nachfrage-Anstieg in 2020. Eine weitere Studie untersucht daher das Preisniveau von Amazon Fresh während der Corona-Pandemie.1 Während der ersten Welle im Frühjahr 2020 ist der allgemeine US-Verbraucherpreisindex für Lebensmittel stark angestiegen. Im April 2020 waren Lebensmittel im Schnitt 4% teurer als im Vorjahr. Amazon Fresh hingegen behielt das niedrige, kompetitive Preisniveau bei. Im Vorjahresvergleich sanken die Amazon Fresh Preise sogar leicht, selbst in Segmenten wie Fisch und Fleisch, für die das Preisniveau im Rest des Landes aufgrund temporärer Verarbeitungsstopps und Lieferengpässen stark anstieg (Abbildung 2).

Trotz vermutlich höheren Kosten und trotz der erheblich gestiegenen Nachfrage während der Corona-Pandemie scheint Amazon also auch im Lebensmittel-Geschäft seine übergeordnete Unternehmensstrategie zu verfolgen: Der langfristige Gewinn von Marktanteilen durch zufriedene Kunden und niedrige Preise steht vor kurzfristigen Profiten. Es bleibt abzuwarten, ob Amazon Fresh dank dieser Strategie und dank des Corona-bedingten Nachfrage-Booms langfristig weiter wachsen kann und möglicherweise eine ähnlich dominante Position wie in anderen Einzelhandelsbereichen aufbauen kann. In diesem Fall könnte erheblicher Druck auf Wettbewerber online und offline und die Gefahr eines Verdrängungs-Wettbewerbs entstehen. Im Gegensatz zu reinen Lebensmittelhändlern kann Amazon nämlich seine Lebensmittelsparte mit den eher geringen Gewinnmargen mit Gewinnen aus hochprofitablen Geschäftseinheiten wie den Amazon Web Services quersubventionieren.
Ein baldiger Markteintritt von Amazon Fresh in den vergleichsweise kleinen Schweizer Markt mit seinen Zollbeschränkungen und anderen Eigenheiten scheint zurzeit recht unwahrscheinlich. Dennoch sollte man die Entwicklungen dieses globalen Akteurs weiterhin beobachten, um neue Geschäftspraktiken zu identifizieren und Auswirkungen auf Wettbewerber, aber auch auf andere Marktakteure wie Zulieferer und Konsumenten frühzeitig zu erkennen.
Referenzen
1 Hillen, J. (2020). Online food prices during the COVID-19 pandemic. Agribusiness (online first). https://doi.org/10.1002/agr.21673
2 Hillen, J. & Fedoseeva, S. (2021). E-commerce and the end of price rigidity? Journal of Business Research, 125, 63-73. (open access) https://doi.org/10.1016/j.jbusres.2020.11.052
*Judith Hillen ist bei Agroscope, Svetlana Fedoseeva an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms Universität Bonn