Strukturwandel im Berggebiet aus einer wirtschaftsliberalen Perspektive

Die Avenir Suisse hat eine Studie zum Strukturwandel im Berggebiet publiziert. Sie rennt damit offene Türen ein. Die Berggebiete kennen ihre Probleme nur zu genau, ebenso wie die vorgeschlagenen Lösungsansätze. Es ist deren konkrete Umsetzung, die Herausforderungen schafft. Das Beispiel der Landwirtschaft zeigt dies exemplarisch.

Die Avenir Suisse befasst ich in einer umfassenden Publikation mit dem Strukturwandel im Berggebiet [1]. Aufbauend auf einer breiten Entwicklungs- und Situationsanalyse präsentiert die Studie auf eine konsistente Weise Herausforderungen des Strukturwandels in den Schweizer Bergregionen und fasst Lösungsansätze aus einer konsequent wirtschaftsliberalen Perspektive zusammen. Dabei fokussiert der Bericht auf Gemeindefusionen, den Bergtourismus, die Bauwirtschaft, Innovationssystem sowie auf Entwicklungsperspektiven für potenzialarme Räume. Die Landwirtschaft spielt in der Studie eine untergeordnete Rolle. Das ist aus zwei Gründen schade.

  1. Die Landwirtschaft ist nach wie vor die dominante Akteurin der Landnutzung in den Bergregionen.
  2. Der Agrarstrukturwandel stellt ein geradezu idealtypisches Beispiel für die Chancen und Risiken des Strukturwandels dar.

Landwirtschaft: Mehr als nur Wertschöpfung

Die Landwirtschaft trägt auch in den Berggebieten – trotz regionalen oder lokalen Unterschieden – nur noch zu einem kleinen Teil zur Wertschöpfung der Wirtschaft bei. Dies mag eine Nicht-Beachtung der Landwirtschaft rechtfertigen. In Bezug auf die Landnutzung und die Beschäftigung ist sie aber immer noch von zentraler Bedeutung für viele Berggebiete. Fast die Hälfte der Flächen werden landwirtschaftlich genutzt und der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft gemessen in Vollzeitäquivalenten liegt bei 4.4 % (zum Vergleich: der Schweizer Durchschnitt liegt bei 1.2%). Der real stattfindende Strukturwandel in der Landwirtschaft (siehe Abbildung) führt zu einem Beschäftigungsrückgang, der in vielen Fällen nicht einfach durch andere Branchen aufgefangen werden kann. Die Bedeutung der Landwirtschaft erschliesst sich daher mehr aus ihrer Funktion als konstituierendes Element der Landschaft und der Bevölkerung und weniger aus ihrer wirtschaftlichen Stärke. Der Bund spricht in diesem Zusammenhang von der Vitalität und Attraktivität des ländlichen Raums [2]. Diese ganzheitliche Betrachtungsweise der Landwirtschaft kommt im Bericht der Avenir Suisse zu kurz.

Abbildung: Anzahl und Grösse von landwirtschaftlichen Betrieben im Berggebiet zwischen 1980 und 2015. In diesem Zeitraum hat sich die Anzahl der Betriebe halbiert (Quelle: Landwirtschaftliche Strukturerhebung).

Ein Beispiel dafür ist die Beurteilung der Direktzahlungen an die Landwirtschaft, welche auf die Sömmerungsbeiträge reduziert werden [1, S. 79]. Wie die Ergebnisse des Forschungsprojekts AlpFUTUR zeigen, ist es gerade diese Verkürzung der Zusammenhänge, welche politisch gutgemeinte Massnahmen ins Leere laufen lassen. Ohne die Berücksichtigung des systematischen Zusammenhangs zwischen der Tierhaltung in tieferen Lagen und der Nutzung von Sömmerungsweiden sind Fehlanreize programmiert [3]. Simulationsberechnungen aus der Region Visp zeigen in diesem Kontext, dass der Strukturwandel in der Landwirtschaft und deren Steuerung eine zentrale Funktion für die Nutzung der Sömmerungsweiden hat [4, 5].

Darüber hinaus ist mit der Bewirtschaftung der Nutzflächen auch die Erbringung von unterschiedlichen Ökosystemleistungen verbunden, von denen nicht nur die Bewohner der Schweizer Berggebiete profitieren, sondern die gesamte Bevölkerung [6, 7]. Die Forderung nach einer Liberalisierung der Agrarmärkte, ein eigentlich legitimes Argument in einer wirtschaftsliberalen Debatte, wirkt daher unausgegoren, wenn dadurch einzig die Kosten für die Hotellerie gesenkt werden sollen. Die systemischen Zusammenhänge zwischen Wertschöpfungsketten, lokalen Produktionsstrukturen, der Flächenbewirtschaftung und der Pflege der Kulturlandschaft werden dadurch vernachlässigt. Wie die Autoren selber schreiben, läge ja gerade in einer koordinierten Vorgehensweise der Schlüssel zum Erfolg.

Herausforderungen liegen in der Umsetzung

Die Vorschläge der Avenir Suisse – keine Patentrezepte in der Bewältigung des Strukturwandels, Überwindung kleinteiliger Strukturen, Investitionen in die Erneuerung des Bestandes, Stärkung der regionalen Zentren, Aktivierung von Wertschöpfungspotenzialen – lesen sich wie eine Zusammenfassung von Forschungsarbeiten zur Berglandwirtschaft aus den letzten 20 Jahren. Diese war nämlich ein wichtiger Untersuchungsgegenstand vieler interdisziplinärer Forschungsprojekte wie dem Polyprojekt Primalp [8], dem Nationalen Forschungsprogramm 48 «Landschaften und Lebensräume der Alpen» [9], dem Forschungsprogramm AgriMontana [10], dem Verbundprojekt AlpFUTUR [11] oder dem Projekt MOUNTLAND [12]. Die Empfehlungen aus dieser Forschung spiegeln sich in der Politik für die Bergregionen der letzten Jahre beispielsweise im Rahmen der Agrarpolitik (z.B. neues Direktzahlungssystem), neuer projekt- und sektorübergreifenden Instrumente (z.B. PRE) oder in regionalen Projektinitiativen (z.B. MovingAlps).

Der springende Punkt ist, dass die Grundausrichtung, welche die Avenir Suisse vorschlägt, anerkannt ist. Die Probleme entstehen erst dann, wenn diese strategischen Prinzipien in die Realität umgesetzt werden sollen. Dies zeigt die Landwirtschaft wiederum exemplarisch. Welche Betriebe sollen aus einer objektiven Perspektive gefördert werden [siehe z.B. 13]? In welche Verarbeitungsstrukturen soll wo und im welchem Umfang investiert werden [14, 15]? Welche Wertschöpfungsinitiativen lohnen sich langfristig?* Auch wenn es Erfolgsbeispiele gibt – nicht nur in Österreich wie die Avenir Suisse suggeriert – kämpfen die Akteure in den Bergregionen, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen, mit Zielkonflikten, hohen Transaktionskosten und teuren Projektstrukturen und weniger mit einer fehlenden strategischen Ausrichtung. Ausserdem zeigen sich in der Umsetzung auch immer wieder die Grenzen von Kooperationen. Nicht überall wo Zusammenarbeit sinnvoll ist, können sich die verschiedenen Akteure – oft über Sektoren und Regionen hinweg – einigen.

Schliesslich stellt sich für die öffentliche Hand die Frage, wie mit einer allfälligen (rechtlichen) Ungleichbehandlung umzugehen ist. Sollen bottom-up Initiativen und unternehmerische Projekte nicht mehr unterstützt werden, weil sie gerade in jenem Tal stattfinden, wo die Perspektiven der Region ungünstiger eingeschätzt werden?

Die strukturellen Nachteile der Bergregionen lassen sich nicht wegdiskutieren und die Notwendigkeit von Transferzahlungen von Wachstumsmotoren in periphere Gebiete wird es auch in den kommenden Jahrzehnten wohl brauchen. Der Strukturwandel spielt in diesem Kontext eine zentrale Rolle und er sollte tatsächlich auch als Chance erkannt werden – speziell in der Landwirtschaft [16]. Strukturwandel beinhaltet aber auch Risiken. Die kritische Auseinandersetzung mit diesen Risiken ist ebenso geboten wie die Berücksichtigung wirtschaftlicher Interessen. Nur dann ist es möglich, widerstandsfähige Bergregionen zu erhalten, die sich nicht von einer Strukturkrise in die nächste angeln.

Literatur

  1. Müller-Jentsch, D., Strukturwandel im Schweizer Berggebiet. Strategien zur Erschliessung neuer Wertschöpfungsquellen. 2017: Avenir Suisse www.avenir-suisse.ch/729.
  2. Ecoplan and HAFL, Beitrag der Landwirtschaft und der Agrarpolitik zur Vitalität und Attraktivität des ländlichen Raums. 2016: Studie im Auftrag des Bundesamts für Landwirtschaft (BLW). Bern.
  3. Fischer, M., S. von Felten, and S. Lauber, Heimfutterfläche – Schlüsselparameter der Sömmerungsnachfrage. Agrarforschung, 2012. 3(4): p. 194-201.
  4. Briner, S., et al., Assessing the impacts of economic and climate changes on land-use in mountain regions: A spatial dynamic modeling approach. Agriculture, Ecosystems & Environment, 2012. 149(2012): p. 50-63.
  5. Brunner, S.H., R. Huber, and A. Grêt-Regamey, A backcasting approach for matching regional ecosystem services supply and demand. Environmental Modelling & Software, 2016. 75: p. 439-458.
  6. Grêt-Regamey, A., S.H. Brunner, and F. Kienast, Mountain Ecosystems Services: Who Cares? Mountain Research and Development, 2012. 32(S1): p. 23-34.
  7. Brunner, S.H. and A. Grêt-Regamey, Policy strategies to foster the resilience of mountain social-ecological systems under uncertain global change. Environmental Science & Policy, 2016. 66: p. 129-139.
  8. Gotsch, N., et al., Land- und Forstwirtschaft im Alpenraum – Zukunft im Wandel. Synthesebericht des Polyprojektes ‚PRIMALP – Nachhaltige Primärproduktion am Beispiel des Alpenraums‘. 2004, Kiel: Wissenschaftsverlag Vauk.
  9. Lehmann, B. and P. Messerli, The Swiss National Research Programme <Landscapes and habitats of the Alpine Arc>. Journal of alpine research, 2007. 4: p. 19-28.
  10. Flury, C., Agroscope Forschungsprogramm AgriMontana. 2010, Forschungsanstalt Agroscope Reckenholz-Tänikon ART.
  11. Lauber, S., et al., Zukunft der Schweizer Alpwirtschaft: Fakten, Analysen und Denkanstösse aus dem Forschungsprogramm AlpFUTUR. 2014, WSL und Agroscope, Birmensdorf und Zürich-Reckenholz.
  12. Huber, R., et al., Sustainable Land Use in Mountain Regions Under Global Change: Synthesis Across Scales and Disciplines. Ecology and Society, 2013. 18(3).
  13. Huber, R., B. Meier, and C. Flury, Evaluation, Weiterentwicklung und Alternativen des SAK-Systems.Bericht zuhanden des Bundesamts für Landwirtschaft. 2014, Flury&Giuliani, GmbH Zürich und bemepro Winterthur.
  14. Huber, R., T. Tribaldos, and C. Flury, Machbarkeitsstudie Schlachtbetrieb(e) Südbünden. 2015: Bericht zuhanden des Amts für Landwirtschaft und Geoinformation ALG Graubünden. Flury&Giuliani GmbH, Zürich.
  15. Flury, C., et al., Evaluation der wirtschaftlichen Bedeutung und Erfolgsfaktoren regionaler Verarbeitungsbetriebe unter Berücksichtigung der Investitionshilfen. 2012: Bericht zuhanden des Bundesamts für Landwirtschaft. Flury&Giuliani, GmbH Zürich.
  16. Huber, R. and C. Flury, Der Agrarstrukturwandel in den Alpen ist nicht nur negativ. ausblicke Magazin für ländliche Entwicklung, 2013. 2(12): p. 29.

*Zurzeit wird gerade das Programm Projekte zur regionalen Entwicklung (PRE) evaluiert.

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