Eva-Marie Meemken, Inbal Becker-Reshef , Laurens Klerkx , Sanneke Kloppenburg, Jan Dirk Wegner & Robert Finger*
Angesichts der enormen Herausforderungen durch Klimawandel, Entwaldung, Verlust der Biodiversität, Armut und Ernährungsunsicherheit war der Bedarf an nachhaltigen und ethisch vertretbaren Lebensmittelsystemen noch nie so gross wie heute. Als Reaktion darauf sind zahlreiche öffentliche und private Initiativen, Programme und Standards entstanden, insbesondere in Ländern mit hohem Einkommen und in globalen Versorgungsketten. Beispiele hierfür sind Agrarumweltprogramme, Massnahmen zum Tierschutz und das Verbot von Kinderarbeit sowie Lieferkettengesetze und private Nachhaltigkeitsstandards wie Fairtrade. Trotz ihrer Vielfalt ist ein gemeinsames Element dieser Initiativen der Bedarf an effektiven, effizienten, transparenten und fairen Mess-, Überwachungs- und Berichterstattungsverfahren (measurement, monitoring and reporting, MMR). Hier kommen digitale Technologien ins Spiel, die eine Reihe von Werkzeugen bieten, die das Potenzial haben, die Überwachung der Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards in Lebensmittelsystemen zu revolutionieren. In einem in der Fachzeitschrift Nature Food veröffentlichten Paper (Meemken et al. 2024) haben wir Potentiale und Risiken dieser Technologien analysiert.
Digitale Monitoringsysteme gewinnen in Lebensmittelsystemen zunehmend an Bedeutung. Technologien wie Fernerkundung, maschinelles Lernen, Big Data, IoT-Sensoren und Blockchain werden in MMR-Prozesse integriert und versprechen eine Verbesserung der Transparenz und Genauigkeit. Diese Technologien ermöglichen die Echtzeitüberwachung von Umweltbedingungen, landwirtschaftlichen Praktiken. Beispielsweise können Satellitendaten Landnutzungsänderungen und Entwaldung verfolgen, während Blockchain-Technologie zur Verbesserung der Rückverfolgbarkeit in Lieferketten eingesetzt wird. Die COVID-19-Pandemie hat die Einführung dieser digitalen Tools, insbesondere für Fernerkundung und die digitale Datenerfassung, weiter beschleunigt. Trotz der raschen Verbreitung dieser Technologien bestehen jedoch erhebliche Wissenslücken hinsichtlich ihrer Wirksamkeit, der potenziellen Risiken und der ethischen Implikationen ihres Einsatzes.
Digitale MMR-Technologien bieten eine Reihe von Vorteilen gegenüber herkömmlichen Überwachungsmethoden. Einer der Hauptvorteile ist die Möglichkeit, Daten in einem Umfang und mit einer Geschwindigkeit zu sammeln und zu analysieren, wie es bisher nicht möglich war. Beispielsweise ermöglicht die Fernerkundung eine globale Abdeckung und nahezu Echtzeit-Überwachung landwirtschaftlicher Flächen, wodurch Einblicke in Abholzung, Ernteerträge und Bodenbewirtschaftungspraktiken gewonnen werden können. Diese Daten können entscheidend sein, um politische Massnahmen und Programme zur Verbesserung der Widerstandsfähigkeit, der Bodengesundheit und der Produktivität zu unterstützen.
Darüber hinaus können digitale MMR-Systeme die Kosten traditioneller Überwachungsmethoden senken, die oft arbeitsintensive Feldarbeiten und Vor-Ort-Inspektionen erfordern. Beispielsweise sind öffentlich verfügbare Satellitendaten aus Quellen wie den Sentinel-Missionen der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) kostengünstig und zugänglich, was es kleineren Unternehmen und Organisationen erleichtert, sich an Überwachungsinitiativen zu beteiligen. Digitale MMR-Systeme haben auch das Potenzial, Produzenten durch den Nachweis nachhaltiger Praktiken zu stärken, was die Transparenz erhöht und das Vertrauen der Verbraucher stärkt. Dies kann zu einer gerechteren Entlohnung der Landwirte führen und die Verbreitung von Nachhaltigkeitszertifizierungen fördern.
Trotz dieser Chancen ist die Digitalisierung von MMR-Systemen nicht ohne Herausforderungen. Soziale Nachhaltigkeitsziele, wie die Eindämmung von Kinderarbeit, prekären Arbeitsbedingungen oder Diskriminierung, sind schwer zu messen, und digitale Technologien haben dieses generelle Problem bisher nicht grundsätzlich gelöst. Bei einem Fokus auf das Messbare (hier Umweltauswirkungen) besteht die Gefahr, dass schwerer zu messende Ziele aus dem Blick geraten.
Zudem könnten neue Technologien bestehende Ungleichheiten in den Lebensmittelsystemen verschärfen. So besteht die Gefahr, dass Kosten für diese Technologien, kleinere, weniger gut situierte Produzenten aus den Wertschöpfungsketten ausgeschiessen. Dieser digitale ‘divide’ birgt die Gefahr, dass sich die Macht in den Händen weniger grosser Akteure konzentriert und kleinere Akteure weiter an den Rand gedrängt werden. Ein weiteres zentrales Thema ist die Datensicherheit und der Datenschutz. Die Erfassung und Verarbeitung grosser Datenmengen kann zu Vorurteilen und Schwachstellen führen, die Manipulationen oder Datenschutzverletzungen nach sich ziehen können. Darüber hinaus sind Fragen des Dateneigentums und der Kontrolle von entscheidender Bedeutung, da die Unternehmen, die die Daten besitzen und verwalten, letztlich einen erheblichen Einfluss auf die Lieferketten haben. Zudem gibt es auch soziale und ethische Fragen im Zusammenhang mit dem Einsatz digitaler MMR-Systeme. So kann die Automatisierung von Überwachungsprozessen durch Smart Contracts zu einer Verkrustung der Regeln und zu einer Einschränkung der menschlichen Autonomie führen. Diese „Plattformisierung“ von Lebensmittelsystemen könnte zu einem Szenario führen, in dem Produzenten ständig überwacht und zu bestimmten Verhaltensweisen gedrängt werden, was zu einem Verlust an Unabhängigkeit und zu einer grösseren Abhängigkeit von digitalen Systemen führen könnte.
Um sicherzustellen, dass die Digitalisierung von MMR-Systemen zu nachhaltigeren und gerechteren Lebensmittelsystemen beiträgt, müssen mehrere wichtige Lücken geschlossen werden. Erstens muss mehr in die Forschung investiert werden, um die tatsächlichen Auswirkungen von digitalen im Vergleich zu nicht-digitalen Monitoringansätzen auf soziale und ökologische Ergebnisse zu bewerten. Diese Forschung sollte auch untersuchen, wie verschiedene Akteure, von NGOs bis hin zu Regierungsbehörden, diese Technologien nutzen und wie die Digitalisierung die Machtverhältnisse innerhalb der Lieferketten verändert. Zweitens müssen Anstrengungen unternommen werden, um die digitale Kluft zu überbrücken, indem sichergestellt wird, dass digitale MMR-Tools für alle Produzenten, unabhängig von Grösse oder Standort, zugänglich und erschwinglich sind. Dies erfordert koordinierte Investitionen und finanzielle Partnerschaften zwischen dem öffentlichen, dem privaten und dem dritten Sektor. Drittens besteht dringender Handlungsbedarf bei der Entwicklung umfassender rechtlicher Rahmenbedingungen für die Nutzung digitaler MMR-Technologien auf lokaler und globaler Ebene. Diese Rahmenwerke sollten darauf abzielen, den Missbrauch digitaler Werkzeuge für einen Überwachungskapitalismus zu verhindern und sicherzustellen, dass die
Die Digitalisierung von Monitoringsystemen in Lebensmittelsystemen birgt ein enormes Potenzial, um Fortschritte in Richtung Nachhaltigkeit voranzutreiben. Die Realisierung dieses Potenzials erfordert jedoch eine sorgfältige Balance zwischen der Nutzung der Vorteile digitaler Werkzeuge und der Minderung der mit ihrem Einsatz verbundenen Risiken. Durch die Bewältigung der Herausforderungen in Bezug auf Ungleichheit, Datensicherheit und soziale und ethische Belange können wir die Kraft der digitalen MMR nutzen, um transparentere, gerechtere und nachhaltigere Lebensmittelsysteme für die Zukunft zu schaffen.
Artikel: Meemken, E. , Becker-Reshef, I., Klerkx , L., Kloppenburg , S., Wegner, J.D., Finger, R. (2024) Digital innovations for monitoring sustainability in food systems. Nature Food https://doi.org/10.1038/s43016-024-01018-6
Referenzen zu den Aussagen und weitere Beispiele finden Sie im Artikel.
*Autoren: Eva-Marie Meemken & Robert Finger (ETH Zurich, Zurich, Switzerland), Inbal Becker-Reshef (NASA Harvest, University of Maryland, College Park, MD, USA), Laurens Klerkx (Facultad de Ciencias Agrarias, Universidad de Talca, Talca, Chile, Wageningen University, Wageningen, Netherlands), Sanneke Kloppenburg (Wageningen University, Wageningen, Netherlands), Jan Dirk Wegner (University of Zurich, Zurich, Switzerland). Kontakt: emeemken@ethz.ch